Juckreiz: wenn das Immunsystem außer Kontrolle gerät

Unser Immunsystem basiert auf einer komplexen und aufeinander abgestimmten Zusammenarbeit unterschiedlicher Immunzellen und Mechanismen. Einer dieser wesentlichen Mechanismen ist die Typ-2-Immunität. Sie unterstützt das Immunsystem vor allem in der Abwehr von extrazellulären Parasiten.

Eine zentrale Rolle spielen dabei neben den Th2-Zellen die Botenstoffe, sogenannte Interleukine (IL)-4, -5, -13 und -31. Kommt es zu einer Fehlregulierung, entsteht eine Typ-2-Entzündung, auch Typ-2-Inflammation genannt. Dies kann die Grundlage verschiedener chronisch-entzündlicher Erkrankungen sein, wie beispielsweise der Atopischen Dermatitis, auch Neurodermitis genannt.

„Zum aus der Haut fahren“

Zu den unangenehmsten Symptomen der Atopischen Dermatitis gehört der Juckreiz. Er ist das am meisten belastende Symptom für die Betroffenen und schränkt ihre Lebensqualität enorm ein. Der chronische Juckreiz führt oft zu massivem Kratzen, das Kratzen wiederum zur Verletzung der Haut und zum Befeuern der Entzündung, was wiederum den Juckreiz steigert. Fachleute sprechen bei diesem Teufelskreis von einem „Jucken-Kratz-Zirkel“. Aus diesem Teufelskreis des chronischen Juckens und Kratzens heraus können bestimmte Menschen eine sogenannte „chronische Prurigo“ entwickeln, die mit juckenden („pruriginösen“) Papeln, Knoten oder Plaques einhergeht, erklärt der Dermatologe Univ.-Prof. Dr. Franz Legat von der Universitätsklinik für Dermatologie Graz. Der knotige Typ der chronischen Prurigo wird auch als „Prurigo nodularis“ bezeichnet. Diese chronische Prurigo wird durch chronischen Juckreiz und chronisches Kratzen zu einer eigenständigen Erkrankung und kann sich bei einer chronisch juckenden Hauterkrankung wie der Atopischen Dermatitis, aber auch durch eine Reihe anderer chronischer Erkrankungen wie der Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus), chronischer Erkrankungen der Nieren oder Leber, Bluterkrankungen oder auch bei Infektionserkrankungen (z.B. HIV) entwickeln.

Wie sieht Prurigo nodularis aus?

„Die stark juckenden, pruriginösen Hautveränderungen sind derb, blass bis hellbraun oder rötlich, variieren in der Größe von wenigen Millimetern bis zu 2-3 cm und erheben sich über das Hautniveau“, beschreibt Prof. Legat. „Meist sind sie symmetrisch angeordnet und treten an den Streckseiten von Armen, Beinen und Rumpf auf“, so Legat. Prurigo nodularis hat neben dem intensiven Juckreiz gravierende Auswirkungen auf den Alltag. Viele Betroffene genieren sich extrem und sie meiden aufgrund der Hautveränderungen öffentliche Bäder oder verzichten aus Angst vor Ablehnung auf kurzärmlige Kleidung im Sommer. Neben einer ausgeprägten Schlafstörung durch den Juckreiz und einem körperlichen und beruflichen Leistungsknick, kann das seelische Leid bei Prurigo nodularis so stark werden, dass sich eine soziale Isolation und eine Depression entwickeln, die ebenso behandlungsbedürftig sind, wie die Hautkrankheit selbst, weiß der Dermatologe. Diese chronische Prurigo, die mit Juckreiz länger als 6 Wochen (meist über Monate, Jahre oder sogar Jahrzehnte) und pruriginösen Hautveränderungen einhergeht, tritt meist bei Menschen über 50 Jahren auf, wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer. Prurigo nodularis kann jedoch auch bei Kindern und Jugendlichen vorkommen.

Womit ist der Juckreiz zu lindern? Gibt es neue Ansätze in der Therapie?

Cremes und Salben mit und ohne Kortison können manchmal anfänglich leichte Erfolge zeigen. Langfristig führen sie aber meist nicht zur Abheilung der chronischen Prurigo. Auch Antihistaminika sind meist unwirksam und wurden oft nur in Ermangelung wirksamer anderer Medikamente versucht. „Derzeit gibt es noch keine zugelassene, wirksame Behandlung gegen die chronische Prurigo, Prurigo nodularis, und alle bisherigen Behandlungsversuche waren und sind off-label-Therapien. In letzter Zeit sind aber vielversprechende klinische Studien durchgeführt worden oder sind noch im Gange, die erste berechtigte Hoffnung geben, dass in absehbarer Zeit eine wirksame Therapie gegen die chronische Prurigo zur Verfügung steht“, erklärt Prof. Legat. „Die Blockaden von wichtigen Auslösern bzw. Förderern von juckenden Hautentzündungen wie z.B. IL-4, -13 und -31, wie sie auch bei der Atopischen Dermatitis vorkommen, haben gezeigt, dass dadurch der chronische Juckreiz und auch die juckenden Hautveränderungen deutlich gebessert werden können oder sogar vollkommen verschwinden. Solche Medikamente (sogenannte Biologika und Small Molecules) stehen heute schon für die Behandlung der Atopischen Dermatitis (Neurodermitis) zur Verfügung oder werden demnächst für diese Behandlung zugelassen. Manche dieser Medikamente werden 2023 voraussichtlich aber auch die Zulassung für die Behandlung der chronischen Prurigo nodularis selbst bekommen.

Wie lange muss man den Juckreiz therapieren? Kommt er nach Absetzen der Medikamente wieder?

„Die Frage, wie lange man chronischen Juckreiz und chronische Prurigo behandeln muss, damit diese verschwinden und dauerhaft wegbleiben, ist nicht so einfach zu beantworten“, weiß der Dermatologe. „Einerseits hängt es davon ab, welche Ursache dem chronischen Pruritus und der chronischen Prurigo zugrunde liegt. Sind die Ursachen überhaupt bekannt und lassen sich diese beseitigen? Eine chronische Niereninsuffizienz unter Hämodialyse kann sich nach Erhalt einer Spenderniere wieder erholen. Eine Eisenmangelanämie kann behandelt werden. Eine medikamentöse Ursache kann durch Austausch des auslösenden Medikamentes zum Verschwinden des Juckreizes führen. Andererseits ist wahrscheinlich auch von Bedeutung, wie lange der chronische Pruritus und die chronische Prurigo bestehen und wie ausgeprägt diese sind. Heute geht man davon aus, dass zumindest die chronische Prurigo für Monate über das Verschwinden des Juckreizes und der pruriginösen Hautveränderungen behandelt werden muss. Wie lange tatsächlich, werden aber erst Langzeitstudien in den nächsten Jahren zeigen“, erklärt der Fachmann für Hautkrankheiten.

Gibt es eine interdisziplinäre Zusammenarbeit an der Grazer Hautklinik, um Prurigo nodularis zu behandeln?

 Prof. Franz Legat dazu: „An der Grazer Hautklinik haben wir eine spezielle Ambulanz für chronischen Pruritus eingerichtet, in der wir uns mit Patienten, die an chronischem Juckreiz und/oder chronischer Prurigo leiden beschäftigen.  Wir nehmen auch an internationalen multizentrischen Studien zur Behandlung der chronischen nodulären Prurigo mit unterschiedlichen Medikamenten teil. Bei den meisten der Betroffenen ist die Ursache Ihres Leidens nicht offensichtlich und oft schwierig zu erfassen. Manchmal bleibt die Ursache für chronischen Pruritus oder chronische Prurigo auch vollkommen unbekannt. In allen Fällen ist es aber wichtig, mit niedergelassenen oder spezialisierten Krankenhaus-Ärzt*innen zusammen zu arbeiten, um bei den Patienten nach einer Ursache zu suchen. Eine allgemeine und gezielte Durchuntersuchung ist aber auch die Basis, um in weiterer Folge spezifische Medikamente einsetzen zu können. Insbesondere ist die Zusammenarbeit mit Internist*innen mit den unterschiedlichen Spezialisierungen (Nephrologie, Gastroenterologie, Hämatologie, Pulmonologie, Infektiologie, etc.) und Radiolog*innen erforderlich. Besonders die Zusammenarbeit mit Psychiater*innen ist von großer Bedeutung, da ursächlich oder als Folge psychischer Belastungen chronischer Juckreiz und die Psyche der Betroffenen viele Berührungspunkte haben.

Die Einrichtung von Kompetenzzentren für chronischen Pruritus und chronische Prurigo ist für die Zukunft ein wichtiger Schritt, die große Zahl an Betroffenen bestmöglich behandeln und langfristig betreuen zu können. Wir haben in Graz mit der Einrichtung einer Ambulanz für chronischen Pruritus und einem Studienzentrum für Atopische Dermatitis und chronische Prurigo einen Kristallisationspunkt für ein solches Kompetenzzentrum bereits geschaffen. Die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen ist noch vielfach informell, da das Thema chronischer Pruritus und chronische Prurigo in anderen medizinischen Fächern noch zu wenig Beachtung findet. Durch die zu erwartenden Zulassungen mehrerer Medikamente, die im Stande sind, chronischen Pruritus und chronische Prurigo unterschiedlicher Ursache effektiv behandeln zu können, dürfte auch das Interesse anderer medizinischer Disziplinen, die direkt oder indirekt mit dem Thema chronischer Pruritus, chronische Prurigo, in Berührung kommen, deutlich steigen und die Grundlage für die Bildung von solchen Kompetenzzentren schaffen.“

Anlaufstelle für Patienten:

Ambulanz für chronischen Pruritus: An chronischem Juckreiz (länger als 6 Wochen dauernd) oder chronischer Prurigo leidende Menschen können sich an die Grazer Hautklinik „Juckreizambulanz“ für eine weitere Abklärung, Behandlung und Teilnahme an einer klinischen Studie wenden.

Foto: Univ.-Prof. Dr. Franz Legat, Universitätsklinik für Dermatologie Graz
cc: Werner Stieber